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«Wir müssen dafür sorgen, dass sich die natürliche Freude an der körperlichen Aktivität wieder entfalten kann.»

Ausgabe Nr. 134
Jun. 2022
Bewegung

Die Pandemie hat sich negativ auf das Bewegungsverhalten von Kindern und Jugendlichen ausgewirkt. Doch die meisten Effekte sind vorübergehend und zeigen: Wir sollten jede Gelegenheit nutzen, um einen gesunden Lebensstil bei Kindern zu etablieren, sagt die Kinderärztin und Sportmedizinerin Susi Kriemler.

Frau Kriemler, Sie haben die «Ciao Corona»-Studie geleitet und dabei auch untersucht, wie sich die Pandemie auf den Lebensstil von Kindern und Jugendlichen in der Schweiz ausgewirkt hat. Was ist dabei herausgekommen?

Wir haben bei über 3000 Kindern im Alter zwischen 5 und 18 Jahren aus den Kantonen Zürich, Tessin, St. Gallen und Graubünden mit Fragebögen erhoben, wie viel Zeit sie körperlich aktiv sind, wie viel Zeit sie vor dem Bildschirm verbringen und wie lange sie schlafen. Unsere Ergebnisse zeigen, dass sich die Kinder und Jugendlichen während des Lockdowns im Frühling 2020 deutlich weniger bewegten – und dafür mehr Zeit mit elektronischen Geräten verbrachten, aber auch etwas länger schliefen als vor der Pandemie.

Dass sich die Bewegung während des Lockdowns verringert hat, war zu erwarten.

Ja, wir haben allerdings gezeigt, dass sich die Werte gegen Ende 2020, während der zweiten Welle, wieder verbesserten – ohne jedoch das Niveau von vor der Pandemie zu erreichen. Unsere Daten weisen überdies einen weiteren interessanten Zusammenhang nach: Kinder und Jugendliche, deren Verhalten unseren Empfehlungen für körperliche Aktivität, Bildschirmzeiten und Schlaf entspricht, erfreuen sich im Schnitt einer besseren Gesundheit und sind mit ihrem Leben insgesamt zufriedener als Kinder und Jugendliche, die sich zu wenig bewegen und nicht genügend lang schlafen.

Wird sich die Pandemie Ihrer Meinung nach längerfristig auf das Gesundheitsverhalten von jungen Menschen auswirken?

Nein, das glaube ich nicht. Aber die Pandemie hat einmal mehr die gesundheitsfördernde Bedeutung der Schule aufgezeigt. Denn im Lockdown ist die Schere in der Bevölkerung weiter aufgegangen: Es gibt Kinder, denen es nichts ausgemacht hat, zu Hause zu bleiben, weil ihre Eltern die negativen Auswirkungen des Lockdowns abfangen und verhindern konnten. Aber andere Kinder haben stark unter dem Lockdown gelitten. Insgesamt hat das Übergewicht zugenommen, es gibt auch mehr Essstörungen und psychische Probleme. Doch sie betreffen in erster Linie Kinder von bildungsfernen Familien mit wenig finanziellen Ressourcen, die schon vor der Pandemie ein erhöhtes Risiko für gesundheitliche Beschwerden aufwiesen. Für uns als Gesellschaft gilt es jetzt deshalb, so schnell wie möglich in die Normalität zurückzufinden – und unsere Aktivitätsmuster zu verbessern.

«Der Schulbeginn setzt eine Entwicklung in Gang, die mit einer stetigen Abnahme der körperlichen Aktivität von Kindern einhergeht.»

Was meinen Sie damit?

Die allermeisten Kinder haben in ihren ersten Lebensjahren genügend Bewegung. Wenn Sie sich irgendwo an einen Spielplatz setzen und dem Treiben zuschauen, sehen Sie eigentlich immer Kinder, die herumrennen. Das ist ihr natürlicher Bewegungsdrang, der muss nicht gefördert werden, der ist einfach da. Doch dann kommen sie in die Schule – und in ihrem Bewegungsmuster gibt es einen Knick: Der Schulbeginn setzt eine Entwicklung in Gang, die mit einer stetigen Abnahme der körperlichen Aktivität von Kindern einhergeht, wie Daten zu fast 50 000 Kindern und Jugendlichen aus ganz Europa belegen. Und auch in der Schweiz bestätigt die sogenannte Sophya-Studie (Swiss children’s Objectively measured PHYsical Activity) diesen Befund: Während praktisch alle sechs- bis siebenjährigen Kinder die Bewegungsrichtlinien erfüllen, bewegen sich nur noch 22 Prozent der 14- bis 16-Jährigen im empfohlenen Umfang.

Das hat doch auch damit zu tun, dass wir mit zunehmendem Alter einfach bewegungsfauler werden?

Ja, logisch. Dass die Aktivität am Anfang am höchsten ist und mit der Zeit allmählich nachlässt, zeigt sich schon in Tierstudien bei Würmern. Dieses Muster liegt wohl in der Natur von Lebewesen – und prägt auch uns Menschen. Aber der dramatische Bewegungsabfall bei uns Menschen schiesst weit über das hinaus, was die Natur vorgeben würde. Das ist unser Problem. Wenn wir den Bewegungsdrang der Kinder unterdrücken, indem wir sie dazu zwingen, von einem Tag auf den andern in der Schule stundenlang ruhig zu sitzen, setzen wir sie schachmatt. Wir müssen dafür sorgen, dass sich die natürliche Lust auf Aktivität wieder entfalten kann. Denn diese Aktivität erhält uns – unsere Muskeln, unser Herz, unsere Blutgefässe, unsere Knochen und unsere Psyche – gesund.

Gibt es grundsätzliche Unterschiede in den Gesundheits­effekten der Bewegung bei Kindern und Erwachsenen?

Nein, aber bei Kindern sind die Effekte viel schwieriger zu messen. Bei Erwachsenen können Sie die Herz- und Hirninfarkte sowie die Mortalität erfassen. Das sind harte Fakten. Bei Kindern messen wir verschiedene Parameter: das Körpergewicht, den Bauchumfang und den Blutdruck. Dann rechnen wir die Faktoren zusammen, das ergibt eine Zahl, mit der wir die Kinder in unterschiedliche Risikogruppen einordnen können. Leider sind die verschiedenen Studien ein Heuhaufen. Wenn alle Forschenden das gleiche Modell brauchen würden und sich auf einen gemeinsamen Score einigen könnten, hätten wir eine viel stärkere Aussagekraft.

Was lässt sich tun, um dem Aktivitätsknick in der Schule entgegenzuwirken?

Wir haben vor einiger Zeit in der sogenannten KISS-Studie (Kinder-Sport-Studie) gezeigt, dass eine tägliche Stunde Sport in der Schule das Bewegungsverhalten und die körperliche Ausdauer der Kinder verbessert. Und gleichzeitig das Körperfett und weitere kardiovaskuläre Risikofaktoren reduziert. Die Intervention dauerte ein Schuljahr, also neun Monate, aber auch vier Jahre später hatten die Kinder im Schnitt bessere Blutdruck- und Blutzuckerwerte. Ein gesunder Lebensstil wirkt sich also langfristig aus. Das sind für mich sehr eindrückliche und wichtige Resultate. Sie sprechen dafür, dass wir schweizweit an allen Schulen an jedem Tag eine Lektion Sport einführen – und zwar auf Kosten der Fächer, die von den Kindern eine grosse Konzentration abverlangen.

«Wir haben vor einiger Zeit in der sogenannten KISS-Studie gezeigt, dass eine tägliche Stunde Sport in der Schule das Bewegungsverhalten und die körperliche Ausdauer der Kinder verbessert.»

Aber würde das nicht die schulischen Leistungen schmälern?

Nein. Wir hatten in den Interventionsklassen unserer Studie zwei akademische Lektionen pro Woche (zum Beispiel Mathe oder Deutsch, nach Ermessen der Klassenlehrpersonen) mit zwei zusätzlichen Stunden Sport ersetzt. Die anderen drei Wochenstunden Sport sind im Schulplan ja schon vorgesehen. Unsere Daten zeigten klar, dass die schulischen Leistungen der Kinder in den Interventionsklassen gleich gut waren wie die Leistungen der Kontrollklassen mit dem regulären Unterricht, obwohl die Kinder in den Interventionsklassen ein um zwei Wochenstunden reduziertes akademisches Schulpensum bewältigten.

Wenn Kinder Freude an Bewegung haben, bewegen sie sich öfter, was sich positiv auf ihr physisches und psychisches Wohlbefinden auswirkt.

Sind Sie optimistisch, dass die tägliche Stunde Bewegung in der Schule bald kommt?

Es wäre mein Wunschtraum, und ich bin absolut überzeugt, dass wir in die richtige Richtung gehen würden, wenn wir das einführen würden. Aber ich bin realistisch geworden und habe gemerkt, dass sich Strukturen nicht so schnell und einfach verändern lassen. Die drei Schulstunden Sport pro Woche sind historisch gewachsen. Sie genügten auch, so lange der Bewegungsmangel noch nicht so verbreitet war. Doch in letzter Zeit sind auch die akademischen Ansprüche an die Schule gestiegen, und das Leistungsdenken setzt immer früher ein.

Gibt es internationale Erfahrungen mit täglichen Sportstunden in der Schule?

Ja, Dänemark hat das vor knapp zehn Jahren eingeführt. Und auch in Kanada gibt es mehrere Regionen, die diesen Ansatz verfolgen. Aber das sind erst vereinzelte Pioniere, die Idee hat sich weltweit noch nicht durchgesetzt. Dabei kommen eigentlich alle, die sich (wie etwa die WHO) mit der Verbesserung des Lebensstils beschäftigen, zum Schluss, dass die Schule der Hebel ist, um Veränderungen einzuleiten.

Viele wissenschaftliche Studien haben auch immer wieder gezeigt, dass eine vermehrte Förderung der Bewegung an den Schulen machbar ist – und dass solche Interventionen auch tatsächlich zu einer Erhöhung der körperlichen Aktivität bei Kindern führen. Wir wissen, dass die körperliche Ausdauer ein sehr wichtiger Faktor für die Gesundheit ist. Natürlich gibt es genetische Unterschiede zwischen den Menschen, was die Ausdauer betrifft. Aber gerade sie lässt sich trainieren und hängt in einem gros­sen Mass davon ab, wie viel sich jemand bewegt.

«Für mich ist die Freude an der Bewegung essenziell. Denn wenn Sie etwas nicht gern machen, hören Sie in der Regel ziemlich rasch wieder damit auf.»

Was ist, wenn sich ein Kind nicht gerne bewegt?

Wichtig ist, dass niemand stigmatisiert und diskriminiert wird. Die Botschaft sollte keinesfalls lauten: «Du bist dick» oder «Du hast eine schlechte Haltung, deshalb musst du jetzt Sport machen». Sondern die Botschaft könnte lauten: «Bewegung gehört für alle einfach dazu.» Im Turnunterricht an der Schule sollte keine Exzellenz angestrebt werden, viel wichtiger ist, dass alle mitmachen. Auch diejenigen Kinder, die nicht zu den Besten gehören, sollen Freude bekommen an der körperlichen Aktivität. Man muss sie einfach dort abholen, wo sie im Moment gerade stehen.

Für mich ist die Freude an der Bewegung essenziell. Denn wenn Sie etwas nicht gern machen, hören Sie in der Regel ziemlich rasch wieder damit auf. Deshalb sind wir – in den Schulen, in den Gemeinden, als Gesellschaft und als Eltern – einerseits gefordert, bei den Kindern diese Freude zu wecken. Und andererseits gilt es, unsere Gewohnheiten und unseren Alltag so auszurichten, dass ein Kind gar nicht anders kann, als sich zu bewegen. Genau aus diesem Grund ist das Schulsetting ideal, es gehört zum täglichen Leben von allen Kindern in der Schweiz. Ich finde diesen systemischen Ansatz elegant, denn mit der Bewegungsförderung an der Schule erreichen wir auch Risikopopulationen, ohne dass wir dabei jemanden stigmatisieren.

Sie schreiben, die körperliche Aktivität sei ein «wichtiges Fundament der Gesundheit».

Ja, die Gesundheit ist gemäss der Definition der WHO ein bio-psycho-soziales Konstrukt. Und tatsächlich wirkt sich die Bewegung in vielerlei Hinsicht positiv auf die körperliche, psychische und soziale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen aus. Denn wie wir aus unzähligen Studien wissen: Körperlich aktive Kinder haben nicht nur mehr Ausdauer und Kraft, sie sind auch psychisch stabiler und haben weniger angstverbundene Symptome und Depressionen als Kinder, die sich nur wenig bewegen. Zudem fördert die körperliche Aktivität auch die soziale Integration. Im Teamsport lernen Kinder, wie sie in Gruppen funktionieren.

Was ist Ihr Fazit aus all diesen Studien?

Aus meiner Sicht sind wir als Gesellschaft nicht nur gut beraten, sondern auch ethisch-moralisch dazu verpflichtet, genügend Bewegung als Grundpfeiler unserer körperlichen, psychischen und sozialen Gesundheit zu implementieren. Wir sollten jede Gelegenheit nutzen, bei Kindern einen gesunden Lebensstil zu etablieren, und zwar je früher in ihrem Leben, desto besser.

Prof. Dr. med. Susi Kriemler

Susi Kriemler hat an der Universität Zürich Medizin studiert und sich danach am Universitäts-Kinderspital Zürich als Kinderärztin spezialisiert. Nach einem mehrjährigen Forschungsaufenthalt, zuerst an der McMaster University im kanadischen Ontario und danach an der Harvard Medical School im US-amerikanischen Boston, hat sie am Stadtspital Triemli eine sportmedizinische Sprechstunde geführt. Dann war Kriemler als Wissenschaftlerin an der ETH Zürich und später am Swiss Tropical and Public Health Institute der Universität Basel tätig. Seit 2013 leitet sie die Forschungsgruppe «Kinder, körperliche Aktivität und Gesundheit» am Institut für Epidemiologie, Biostatistik und Prävention der Universität Zürich. Zudem ist seit 2015 Präsidentin der Gesellschaft für pädiatrische Sportmedizin.

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